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Schützen, verbieten oder was?

Moralisch-ethische Dimensionen des Online-Lebens von Kindern und Jugendlichen am Beispiel von Cybermobbing

Ein wissenschaftlicher Beitrag zu moralisch-ethischen Dimensionen des Cybermobbings bei Kindern und Jugendlichen von Prof. Dr. Eveline Gutzwiller-Helfenfinger, Mobbing-Expertin und Professorin für Bildungs- und Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Schwyz.

Laut einem Bericht der International Telecommunications Union nutzten im Jahr 2023 schätzungsweise 5,4 Milliarden Menschen, d. h. 67 % der Weltbevölkerung, das Internet. Die Zahl der Internet-Nutzenden ist stetig gestiegen, mit Wachstumsraten von 11 Prozent für 2019-2020, 5,1 Prozent für 2020-2021 und 6,1 Prozent für 2021-2022. Die Internetnutzung ist nur eine Form der Nutzung digitaler Technologien für Kommunikation, Unterhaltung, wirtschaftliche Transaktionen und viele weitere alltägliche Aktivitäten im Kontext von Beruf und Freizeit. Das Technologie-Ökosystem hat im 21.Jahrhundert grundlegende Veränderungen erfahren, die sich auf neue Weise auf das Leben auch von Kindern und Jugendlichen auswirken. Zu den Online-Diensten gehören unter anderem Messaging-Anwendungen (z. B. Signal, Telegram, WhatsApp), Online-Spiele (z. B. Minecraft, Fortnite, Candy Crush), soziale Medien (z. B. Facebook, Instagram), Streaming-Dienste (z. B. Amazon Prime, Netflix, Disney+) und Plattformen für nutzergenerierte Inhalte (z. B. Snapchat, Tiktok, Youtube). Bei der Diskussion über Online-Gefahren und ihre Folgen für das Wohlergehen des Einzelnen ist ein besonderer Fokus auf Kinder und Jugendliche angebracht. Weltweit ist schätzungsweise jede:r dritte Internetnutzende ein Kind unter 18 Jahren, wobei die Zahlen stetig steigen. Das zunehmende Eintauchen von Kindern in Online-Umgebungen unterstreicht daher die Notwendigkeit, ihnen Unterstützung, Schutz und Anleitung beim Navigieren der digitalen Welt zu bieten.

Aufgrund der rasanten Fortschritte der digitalen Technologien hat fast jeder Aspekt des Lebens von Kindern eine Online-Dimension, wobei die Online- und Offline-Welt zunehmend miteinander verschmelzen. Das Internet und die sozialen Medien sind allgegenwärtig und bilden einen integralen Bestandteil des sozialen Umfelds und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Im Jahr 2023 waren z.B. 79 % der 15- bis 24-Jährigen online, verglichen mit 65 % der übrigen Weltbevölkerung, wobei die online verbrachte Zeit stetig zunahm. Die gut dokumentierte problematische Nutzung des Internets sowie von Social Media und weiteren digitalen Diensten zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche Unterstützung, Schutz und Anleitung bei der Navigation in der digitalen Welt benötigen. Dies, da sie oft nicht in der Lage sind, die damit verbundenen Risiken und möglichen Folgen einzuschätzen.

Cybermobbing

Das Phänomen des Cybermobbings, auch als Online-Mobbing bezeichnet, beschreibt Methoden des Mobbings oder der Belästigung anderer mithilfe computergestützter Technologien. Beispiele sind Instant-Messaging-Apps, Kameras, sozialen Websites, Chatrooms und Foren, Bildnachrichten, Sprachnachrichten und vielem mehr. Zu den verwendeten elektronischen Geräten gehören Mobiltelefone, Smartphones, Computer und Tablets. In der Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Cybermobbing eine vorsätzliche und wiederholte Aggression in einem elektronischen Kontext gegen jemanden darstellt, der oder die sich nicht ohne Weiteres verteidigen kann. Seit Cybermobbing in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts aufkam, haben sich die Formen sowie die verwendeten Technologien und Geräte aufgrund globaler Digitalisierungsprozesse weiterentwickelt.

Aufgrund der potenziell unbegrenzten Verfügbarkeit von und dem uneingeschränkten Zugang zu Hardware, Software, Plattformen und dem Internet unterliegt Cybermobbing keinen zeitlichen, räumlichen oder geografischen Grenzen. Darüber hinaus gibt es erhebliche Überschneidungen zwischen Cybermobbing und anderen Formen von Online-Schädigungen wie Cyberstalking, Online-Identitätsdiebstahl, Sexting, Sextortion oder Hate Speech. Die Global Coalition for Digital Safety bezeichnet Cybermobbing als Verletzung der Würde und damit als Verletzung der Menschenrechte resp. der Kinderrechte.

Opfer von Cybermobbing zu werden, ist ein globales Problem. Eine Analyse der UNESCO von 2019 auf der Basis von internationalen Daten ergab, dass weltweit 10 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 9 bis 17 Jahren Cybermobbing ausgesetzt waren. Zu den negativen psychosozialen Folgen für die Opfer von Cybermobbing zählen sowohl Probleme mit der körperlichen und psychischen Gesundheit, u.a. ein hohes Stressniveau, Selbstmordgedanken, Depressionen, Angstzustände, Einsamkeit, emotionale Probleme, Drogen- und Alkoholkonsum sowie eine verminderte Lebenszufriedenheit, ein geringeres Selbstwertgefühl und weniger positives Sozialverhalten.

Cybermobbing bei Kindern und Jugendlichen ist aus drei wesentlichen Gründen besonders schädlich. Erstens haben Untersuchungen durchweg eine hohe Überschneidung mit traditionellem resp. Offline-Mobbing gezeigt. Zweitens haben beide Formen des Mobbings in der Regel ihren Ursprung im schulischen Umfeld von Kindern und Jugendlichen, wobei Cybermobbing das Repertoire der Täter erweitert, sodass diese verschiedene Formen in der Schule und außerhalb der Schule nutzen und miteinander kombinieren. Drittens haben Opfer von Cybermobbing aufgrund der (oft unbegrenzten) Allgegenwart digitaler Kommunikation rund um die Uhr praktisch keinen sicheren Raum mehr zur Verfügung.

Was bedeutet dies aus moralisch-ethischer Sicht?

Die Allgegenwart von potenziellen und dokumentierten Übergriffen und Schädigungen erfordert, dass wir uns mit der sogenannten „dunklen Seite“ der sozialen Medien und digitalen Online-Dienste auseinandersetzen müssen. Viele der schädlichen Verhaltensweisen, die Kinder und Jugendliche online zeigen, schaden zudem nicht nur anderen, sondern auch ihnen selbst. So machen sie z. B. die Mobbenden anfällig dafür, selbst zum Opfer zu werden, wie im Fall von Cybermobbing. Es braucht also Schutz.

Die Forschung zu wirksamen Massnahmen zur Prävention von den vielfältigen Formen von Online-Gewalt gegen Kinder steckt noch in den Kinderschuhen. Im Hinblick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen bietet die Umsetzung technischer Lösungen einen wichtigen Ansatzpunkt. Der Allgemeine Kommentar Nr. 25 der UN-Kinderrechtskonvention befasst sich mit Kernbereichen der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen, z. B. in Bezug auf ihr Recht auf Information und freie Meinungsäußerung. So sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass die Technologie-Anbieter Dienste zur Verfügung stellen, die den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern angemessen sind. Die Anbieter sollen auch Leitlinien entwickeln und umsetzen, welche es Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich sicher und ohne Konfrontation mit schädlichen Inhalten online bewegen zu können. Unternehmen, Eltern und der Staat tragen somit gemeinsam die Verantwortung für die Schaffung einer verständlichen und transparenten Online-Umgebung, in der Kinder echte Wahlmöglichkeiten und Handlungsfreiheit haben.

Aber ist Schutz die einzige Lösung? Was brauchen junge Menschen? Aus Sicht der Kinderrechte müssen Kinder auch partizipieren und mitbestimmen können. Sie müssen befähigt werden, sich in allen für sie relevanten Lebensbereichen einzubringen. Sie müssen auch lernen, was Datenschutz bedeutet und wie sie online mit Daten sicher umgehen können. Dies betrifft insbesondere die Bereiche ihres eigenen digitalen Online-Lebens. Es reicht daher nicht aus, sich ausschließlich auf technische, sicherheitsbezogene oder restriktive Lösungen wie die Einschränkung des Zugangs zu verlassen: Es muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen dem Schutz der Kinder vor Gefahren und der Möglichkeit, sich in ihrer digitalen Lebenswelt zu entfalten und auszudrücken. Aus einer entwicklungsbezogenen, moralisch-ethischen Perspektive geht es darum, die Kinder und Jugendlichen so zu stärken, dass sie auch im digitalen Raum positive Beziehung zu anderen aufbauen und pflegen können. Dies bedeutet u.a., dass sie lernen, nicht nur sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse zu sehen und die Folgen ihres Handelns für sich selbst und andere zu bedenken.