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Ein «Ich» und ein «Du» gibt ein «Wir»

Die professionelle Erzählerin Caroline Capiaghi besucht mit dem Kinderschutz.li-Workshop «Ich und Du = Wir» eine erste Klasse. Sie kennt die Klasse noch nicht und weiss nicht, was sie erwartet. Jede Klasse ist individuell, Carolines Vorhaben aber immer dasselbe: Anhand eines Märchens den Klassenzusammenhalt zu stärken und ein wertschätzender und achtsamer Umgang miteinander zu fördern.

Geschichten lebendig machen

Caroline und die Kinder sitzen in einem Kreis. In der Mitte liegen schön drapierte farbige Tücher. Bevor Caroline mit dem Märchen beginnt, stimmt sie die Kinder ein: Licht dimmen, leise sprechen. Dann lächelt sie in die Runde und sagt mit freundlicher Stimme: «Aber nicht einschlafen gell.» Caroline spielt mit den Schlägeln eine sanfte Melodie auf dem Xylophon. Die hibbelige Stimmung vom Anfang löst sich spürbar auf und die Kinder werden ruhiger.

Caroline Capiaghi erzählt den Kindern das Märchen vom Glückskind. Die leidenschaftliche Märchenerzählerin setzt verschiedene Stimmlagen, ihren Blick, ihre Mimik und Gestik sowie ihren ganzen Körper und Musikinstrumente ein und erweckt so das Märchen wortwörtlich zum Leben. Caroline nutzt die Zeit während des Erzählens unter anderem dazu, die Stimmung in der Klasse wahrzunehmen und einzelne Kinder zu beobachten, während diese gebannt den Wörtern aus ihrem Mund folgen.

Die Geschichte des «Glückskindes»

Das Märchen des «Glückskindes» handelt von einem Jungen, dem prophezeit wird, dass er später einmal die Königstocher heiraten wird. Da der König das verhindern möchte, versucht er den Jungen zu töten, was ihm jedoch nicht gelingt. Der Junge überlebt und beschert einem kinderlosen Paar ein glückliches Leben bis er mit 14 Jahren wieder vom König gefunden wird. Dieser will dieses Mal auf Nummer sicher gehen und stellt ihm die kaum lösbare Aufgabe, dem Teufel drei goldene Haare vom Kopf zu stehlen. Dem Jungen gelingt nach einer weiten Reise mit vielen verschiedenen Begegnungen und weiteren Aufgaben das Unmögliche. Das Glückskind kehrt nicht nur mit den goldenen Haaren, sondern auch mit einem Esel bepackt mit Gold zurück ins Schloss vom König. Der gierige König versucht daraufhin selbst sein Glück und scheitert. Er wird zu ewiger Arbeit verdonnert und ist bis heute nicht zurückgekehrt.

Mut und Tugendhaftigkeit werden stets belohnt

Die Kinder lernen, dass sich die Umstände für ein Glückskind stets zum Guten wenden, auch wenn es schwierig wird oder er vermeintlich bösen Menschen begegnet. Mit seiner liebevollen und tugendhaften Art kann er alles schaffen. Intrigen hingegen, wie sie der König spinnt, enden nicht gut und stürzen den Intriganten selbst in die Misere.

Lernen, auf das Bauchgefühl zu hören

Caroline beendet das Märchen und die Kinder kommen mit ihrer Aufmerksamkeit zurück in den Raum. Die Kinder werden aufgefordert, ihre Augen zu schliessen und Caroline fragt: «Welches Bild von diesem Märchen ist dir vor deinem inneren Auge geblieben?» Sie bittet die Kinder, das Bild festzuhalten, auch wenn andere Kinder ein anderes Bild sehen. Es gibt kein richtiges und kein falsches Bild. Alle Bilder sind willkommen. Die Kinder erzählen der Reihe nach von ihren Bildern. Sie haben gut zu gehört: Von der Hochzeit bis zur Grossmutter des Teufels in der Höhle oder dem Wächter vor dem Stadttor ist alles dabei. Caroline hakt nach und fragt die Kinder, ob die Stimmung in ihrem Bild warm oder kalt ist und welche Farben sie im Bild sehen. Die Kinder lernen auf ihr Bauchgefühl und ihre innere Stimme zu hören und trauen sich ganz frei ihre eigene Wahrnehmung zu beschreiben.

Beziehungen zu sich selbst und zur Gruppe stärken

Kurz vor der Pause folgt das Highlight: Caroline eröffnet den Kindern, dass sie das Märchen gemeinsam spielen werden. Ein lautes «Juhui» geht durch die Aula. Die Kinder sind energiegeladen und freuen sich auf das, was folgt. Sie dürfen der Reihe nach eine Rolle aus dem Märchen wählen. Bei dieser Aufgabe geht in erster Linie um das «Ich». Wer will ich sein? Spiele ich eine Rolle, die meinem Charakter ähnelt? Oder nicht? Wie entscheiden sich die anderen? Höre ich auf mein Bauchgefühl oder folge ich meinen Freunden? So definieren die Kinder über die Rollen ihr eigenes «Ich» und ihre Position in der Gruppe. Die Vielfalt der Charaktere lässt den Kindern eine grosse Auswahl und für Caroline sind die Rollenbilder nicht in Stein gemeisselt. Ob das Glückskind ein Mädchen oder ein Junge ist oder ob die Eltern des Kindes von zwei Mädchen gespielt werden, spielt überhaupt keine Rolle. Die Kinder dürfen mitreden und alles ist möglich!

Rollenverteilung bedeutet in Kommunikation treten und Lösungen finden

Die Kinder müssen sich organisieren, denn es müssen alle Rollen besetzt sein. Doch was passiert, wenn eine Rolle frei bleibt? Wer ist bereit die Rolle zu wechseln und wie verändert das die Dynamik? Hier zeigt sich stark das Wir-Gefühl der Klasse. Die Klasse von heute schafft es zwar, alle Rollen zu besetzen, doch Caroline erkennt ein bekanntes Muster: Die Rolle der Königstocher ist auch in dieser Klasse bei den Mädchen sehr beliebt. Gleich vier Mädchen werden heute zur Prinzessin.

Caroline zieht bewusst auch die Lehrpersonen in den Workshop mit ein und so wird auch sie eine Rolle übernehmen. Das gibt den Lehrpersonen die Chance, ihre Klasse aus einer ganz anderen Perspektive zu erleben als im Frontalunterricht. Sie sind Teil der Dynamik und vom Wir-Gefühl. Obwohl es für die Lehrperson im ersten Moment seltsam sein mag, merken sie, wie schnell die Kinder vergessen, dass es sich um die Lehrperson handelt. Sie werden von der Gruppe mitgetragen.

Achtung, fertig, Theater!

Beim Durchlauf hat Caroline alle Hände voll zu tun. Sie ist nicht nur die Erzählerin, sondern spielt bei jedem einzelnen Kind die Rolle mit und hilft ihnen mit dem Text. Nebenbei spielt sie das Xylophon, um die Szenen zu verbinden. Wie ein Wirbelwind tänzelt sie durch die Aula und lässt die Kinder in ihrer Rolle aufblühen. Die Kinder müssen aufmerksam dabeibleiben, damit sie ihre Einsätze nicht verpassen. Jetzt ist das Wir-Gefühl deutlich spürbar: Ohne Aufforderung helfen sie einander und fiebern mit. Sie flüstern sich den Text zu oder rufen laut: «Du bist dran, Sebastian». Es ist ein fröhliches Miteinander!

Jedes Kind ist ein Glückskind

Zum Schluss des Workshops setzen sich alle Kinder in einen Kreis am Boden. Caroline fragt die Kinder, was ihnen an ihrer Rolle gefallen hat, und lässt sie so ihre Rolle reflektieren. Sie schmunzelt, als eine der vier Prinzessinnen sagt, dass sie das nächste Mal lieber die Grossmutter oder den Teufel spielen will, weil sie keinen Text hatte und oft warten musste. Genau um diese Erfahrungen geht es Caroline. Wichtig ist aber, dass die Kinder die Situationen selbst erleben und ein Bewusstsein dafür entwickeln.

Jedes Kind erhält von Caroline persönlich einen Glücksstern. Nun sind alle Glückskinder, die wie das Kind im Märchen alles erreichen können, auch wenn es manchmal schwer ist! Die Kinder machen gemeinsam mit Caroline einen Tanz zu Musik. Applaus! Dann streifen sie ihre Kostüme und somit ihre Rolle definitiv ab. Die Kinder räumen gemeinsam auf und gehen fröhlich und zufrieden in ihre Klasse zurück, um ihr persönliches Bild aus dem Märchen zu malen.

Ich und du = Wir

Unbewusst haben die Kinder heute viel mitgenommen. Sie haben ihr «Ich» definiert und auf ihr Bauchgefühl gehört und trotzdem darauf geachtet, dass das Theaterstück in der Klasse funktioniert und niemand zurückbleibt. Die Gruppe ist gemeinsam gewachsen und von innen gestärkt. Aus einem «ich» und einem «du» ist ein «wir» geworden.

Zur Person:
Caroline Capiaghi ist seit Jahren erzählend im deutschsprachigen Raum unterwegs. Ihre Erzählkunst erheitert, erfreut, begeistert, berührt Klein und Gross. Mit ihrer kunstvollen Mundartsprache und den gekonnt eingesetzten Gesten lässt sie uralte Geschichten wieder lebendig werden.

Wertvolle Links:

Workshop «Ich und Du = Wir»
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